Domenico Losurdo
Nietzsche der aristokratische Rebell, aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer, hg. und mit einer Einführung von Jan Rehmann, Berlin 2009 (Argument Verlag), 2 Bd., geb., 1104 S., 98.- Eur
„Intellektuelle Biographie“ nennt Losurdo sein voluminöses Werk über Nietzsche treffend im Untertitel. Soll heißen: Die wirklichen Lebensumstände sind darin weitgehend ausgespart; im Zentrum steht die intellektuelle Entwicklung Nietzsches und zwar im Zusammenhang ihrer Zeit und ihrer geschichtlichen Umstände. Durch diese Art der Kontextualisierung steht Losurdos Darstellung im Gegensatz zum heutigen, im Zeichen der Postmoderne üblichen Verständnis. Sie ist eine Ohrfeige für alle Versuche, Nietzsche als Zeitgenossen zu behandeln, dessen „experimentelle“, „perspektivische“, „ironisch-vieldeutige“ Denkweise unmittelbar auf die Gegenwart bezogen werden könnte. Losurdo nimmt Nietzsche stattdessen wörtlich. Er bezieht seine Aussagen auf die Geschichte der Französischen Revolution, das Aufkommen der Arbeiterbewegung, den Stimmungsumschwung nach 1848, den Deutsch-französischen Krieg, die Reichsgründung, die Kolonisation oder die Aufhebung der Sklaverei in Amerika und bestimmt seine (klassenmäßige) Position. Nietzsche vertritt nicht nur das Interesse des herrschenden Bürgertums gegen die aufkommende Sozialdemokratie, sondern zugleich das Interesse eines zukünftigen, um die Weltherrschaft kämpfenden gegen das gegenwärtige Bürgertum, das seiner Ansicht nach von Moral, Mitleid und Pazifismus angekränkelt ist und sich um Harmonie und die reformerische Lösung sozialer Konflikte bemüht. Seine aggressive und auf die Verwirklichung des „Übermenschen“ zielende Elitetheorie wird mit dem Begriff des „aristokratischen Rebellentums“ bezeichnet.
Losurdo betreibt Ideologiekritik im klassischen Sinne und bleibt damit – in methodischer Hinsicht – der Marxschen Tradition verpflichtet. Was ihn von den früheren Interpretationen unterscheidet, die der gleichen Tradition verpflichtet sind, ist der überwältigende Materialreichtum und die politische Distanz, mit der er diesen Reichtum ausbreitet. Losurdo hasst das Objekt seiner Darstellung nicht mehr. Die Neugierde und das Interesse der Erkenntnis haben das Interesse der polemischen Verurteilung verdrängt. Darüber hinaus besitzt Losurdo ein Gespür für das Faszinierende an Nietzsches Philosophie und ist bereit, von ihr auch zu lernen. (865 f., 907, 926 f., 926 f.)
Originell ist die Konsequenz, mit der Nietzsche beständig auf Marx bezogen wird, umso mehr, als beide Autoren keinerlei Notiz voneinander genommen haben. Losurdo stellt diese Beziehung über eine dreifache Vermittlung her. Erstens durch die Gegenüberstellung ihrer Stellungnahmen zu historischen Ereignissen und Persönlichkeiten (Reformation und Revolution, Napoleon und Bismarck etc.), zweitens durch den Vergleich ihrer Begriffe (wie z.B. des Begriffs der Ideologie, 436 ff.), ihrer Wertmaßstäbe oder ihrer Antworten auf aktuelle Probleme („soziale Frage“, „Judenfrage“). Drittens wird Nietzsche weit über seine Freund-Feindschaft zu Schopenhauer und Wagner hinaus als Leser und Kritiker von Hegel und Goethe, Heine und Carlyle, Stirner, D. F. Strauss, Ranke, Darwin oder Dühring dargestellt: alles Autoren, die auch Marx und Engels gelesen und kritisiert haben. Aus den gegensätzlichen Rezeptionen vervollständigt sich das Bild der beiden Theorien und ihrer Zukunftsperspektiven. Dabei erstaunt, dass sich die Beschreibung der Phänomene zuweilen, wie etwa der Geschichte als „Stände- und Klassenkampf“ oder des modernen Lohnarbeiters als „Lohnsklaven“, bis in die Wortwahl hinein sehr nahe kommen. In der Einordnung und Beurteilung der Phänomene gehen die Wege freilich weit auseinander.
Folgt man Losurdos Interpretation, so lässt sich die oft bewunderte Differenziertheit und Raffinesse Nietzsches doch letztlich auf sehr einfache und handfeste, zudem vom Geiste des Nationalismus und der Judenfeindschaft inspirierte Dichotomien reduzieren. Auf der einen Seite steht das Tiefe, Tragische oder Dionysische, das aus dem älteren Griechentum abgeleitet, zum Programm der Gesundung des „deutschen Wesens“ (als Bildungsoffensive nach der Reichsgründung 1870) erhoben wird, auf der anderen Seite der oberflächliche Optimismus der Aufklärung, die „Heiterkeit“, der „Merkantilismus“ und „Pazifismus“, die in Sokrates ihren Ahnherren haben und über die Juden und Christen Eintritt in die französische Zivilisation gefunden haben (115 ff.). So ist die Geburt der Tragödie auch ein Manifest gegen die Moderne, gegen die die deutsche Kultur zum entschiedenen Widerstand aufgerufen wird. Der große „Unzeitgemäße“, als der sich Nietzsche sein Leben lang in Szene setzt, ist er dennoch nicht. In Losurdos „komparativer“ Sicht erscheint er vielmehr als Spiegel und Sprachrohr aller reaktionären, gegen die Moderne gerichteten Tendenzen, die das europäische Geistesleben der zweiten Jahrhunderthälfte aufzuweisen hat.
„Wer Nietzsche … wörtlich nimmt“, schrieb Thomas Mann 1945, der „ist verloren“. Die Postmoderne, die Nietzsches Verbindung zum Faschismus (im Gegensatz zu Thomas Mann) ignoriert, hat diesen Satz gerne aufgenommen und von den „Masken“ gefaselt, hinter denen der Denker auf der Bühne sein wahres Antlitz verbirgt. Gerade eine der umstrittensten Aussagen Nietzsches, dass nämlich jede höhere Kultur Sklaven voraussetze und die Mehrheit der Menschen nur die Funktion von Werkzeugen für die Ermöglichung von Eliten habe, ist gar nicht „metaphorisch“, sondern durchaus wörtlich gemeint. Das macht Losurdo dadurch plausibel, dass er sie auf den anti-abolitionistischen Diskurs bezieht, der im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei in Amerika geführt wurde. (380 ff.) U.a. merkt er dabei an, dass Nietzsches Rechtfertigung der Sklaverei im Namen der „höheren Kultur“ schon von Linguet vorweggenommen wurde, einem französischen Kritiker der Aufklärung, den Marx bereits in den Theorien über den Mehrwert abgefertigt hatte.
An der Unterscheidung der drei Entwicklungsstufen Nietzsches, der „metaphysischen“ (des Frühwerks), der „aufgeklärten“ (von Menschliches-Allzumenschliches) und der „immoralistischen“ (seit Jenseits von Gut und Böse), wie sie in der Nietzsche-Literatur üblich ist, hält auch Losurdo fest, wobei er innerhalb der ersten eine weitere Differenzierung vornimmt. Im Gegensatz zu den anderen Interpretationen werden allerdings nicht nur theorie-immanente Merkmale herangezogen, sondern veränderte politische Frontstellungen ins Spiel gebracht. Produktiv wurde dabei vor allem Nietzsches Enttäuschung über die (in seinen Augen) vertane Chance der Erneuerung des Deutschtums im Zweiten Reich, die (angebliche) Nachgiebigkeit Bismarcks gegenüber der Sozialdemokratie und schließlich das Zurückschrecken vor der „großen Politik“, die Kolonien erwirbt und die Weltherrschaft anstrebt. Das Verbindende und einheitsstiftende Moment dieser drei oder vier Entwicklungsepochen ist die auf verschiedenen Stufen erneuerte „Revolutionskritik“ und der Entwurf einer Gesellschaftsordnung, die jenseits von Menschenrechten und Mitleidsethik, von Demokratie und Sozialismus steht.
Neu ist auch das Licht, das Losurdo auf Nietzsches Verhältnis zu den Juden wirft, wobei er explizit von (kulturell motivierter) „Judenfeindschaft“ und nicht von (rassisch bedingtem) „Antisemitismus“ spricht. Dabei unterscheidet er dreierlei „Typen“ von Juden. Während sich Nietzsches Attacken auf den Typus des Pöbels, des Moralapostels und Ressentiment-Priesters und den Typus des (subversiven) Intellektuellen und Zeitungsschreiber durch das ganze Werk hindurch ziehen, scheinen im Spätwerk die Hochachtung vor den Juden als Repräsentanten von „Geist“ und „Geld“ sowie die Abwehr des dummen Antisemitismus die Oberhand zu gewinnen. Losurdos These dagegen ist: Nietzsches Versuch, die jüdischen Kapitalisten mit den preußischen Junkern zu amalgamieren und seine Hoffung auf eine „europäische Rasse“, in der auch die Juden integriert sind, ist seiner Perspektive auf den bevorstehenden Endkampf um die Weltherrschaft untergeordnet, zu dem die assimilierten Juden ihr Teil beitragen sollen. Selbst seine Abneigung gegen den Hofprediger Stöcker entspringt nicht in erster Linie dessen Antisemitismus. Ausschlaggebend ist vielmehr dessen christlich motiviertes Engagement, das ihn (im Verein mit Wilhelm II. und Papst Leo XIII.) für die Aufhebung der Sklaverei in den afrikanischen Kolonien und die Linderung des Arbeiter-Elends durch Sozialgesetzgebung eintreten ließ. (545 ff.)
So stark Losurdos Argumentation gegen die postmoderne „Hermeneutik der Unschuld“ ist, so wenig können seine Argumente gegen Lukács überzeugen, der – ebenso wie Ritter, Hobsbawm, Elias, Mayer u.a. – Nietzsche als Vorläufer und Wegbereiter des Faschismus darstellt. Richtig ist Losurdos Argument, dass Irrationalismus, Sozialdarwinismus, Eugenik oder Rassetheorien keine deutsche Spezialität, sondern in anderen europäischen Ländern ebenso verbreitet waren und sogar (wie im Falle Gobineaus, Daltons, Chamberlains u.a.) von dorther importiert wurden. Aber das wusste Lukács auch, der trotz seiner selbstgewählten Konzentration auf Deutschland auch die französischen und englischen Quellen behandelte und den Irrationalismus expressis verbis als „internationale Erscheinung in der imperialistischen Epoche“ darstellte. Richtig ist auch Losurdos Anmerkung, dass man den deutschen Faschismus aus seinen geschichtlichen Umständen (Niederlage im Ersten Weltkrieg, Demütigung durch den Versailler Friedensvertrag, Wirtschaftskrise) begreifen und nicht ursächlich aus der Ideologie und der „Zerstörung der Vernunft“ ableiten kann, aber das versteht sich für einen Marxisten doch von selbst. Lukács’ Absicht war es nicht, eine Kausalkette von Nietzsche zu Hitler zu konstruieren; sein Ausgangspunkt war vielmehr das Staunen darüber, dass ein kultiviertes und gebildetes Volk, ein Volk, das Goethe und Hegel hervorgebracht hat, sich anfällig zeigen konnte für die Schundideologie der Nazis. Zur Erklärung dieses Phänomens spielt Nietzsche mit seinen Elite-, Menschenzüchtungs-, Macht- und Vernichtungsphantasien, wie Losurdo ja selbst glänzend belegt, eine prominente Vermittlerrolle.
Nicht überzeugend erscheint auch Losurdos Zurückweisung eines deutschen „Sonderwegs“, den er als einen diabolischen „Mythos“ (608, 812) bezeichnet, dem sich nicht einmal die marxistisch-inspirierte Geschichtsschreibung entziehen konnte. Nicht überzeugend deshalb, weil doch eigentlich sein ganzes Buch von diesem Sonderweg handelt, der freilich nicht in der „ideologischen Konstellation“, sondern in der geschichtlichen Konstellation Deutschlands liegt: in der verspäteten Entwicklung des Kapitalismus, der Schwäche des Bürgertums, dem Fehlschlagen der Revolution und der Nationalstaatsgründung „von oben“ ohne demokratischer Legitimation „von unten“. Sieht man von seiner „komparativen Analyse“ der reaktionären Ideologie-Prozesse ab, so besteht Losurdos Verdienst m. E. gerade darin, Nietzsche zugleich als das Produkt dieses Sonderwegs wie auch als Rebellen dagegen interpretiert zu haben.
Konrad Lotter
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